Kinderjahre: Reise über die grüne Grenze

Es war kurz nach dem Krieg, die sogenannte "schlechte Zeit".  Der knurrende Magen war der Motor für die Ideenschmiede. Da mimten Vater und Tante (sind Geschwister) ein Liebespärchen, um abends heimlich Zuckerrüben aus dem Feld zu ziehen, Mutter wusste von den relativ besseren Lebensbedingungen ihrer Eltern in Holland und Tabak wurde in Omas, mit Glas überdachten Balkon gezüchtet. Heute noch werden in der Rückschau lächelnd Anekdoten erzählt. Damals war es aber bittere und dauernde Realität!

Ein Teil der Verwandtschaft wohnte strategisch günstig an der holländischen Grenze. Kaum 6 Kilometer Luftlinie trennten uns von dort zum Haus der Großeltern in Holland. Allein die 350 Kilometer langen Bahnreisen bis zur Verwandtschaft konnte ein gut 24-Stundentrip werden. Als Vorschulkind habe ich sicher auch eine Zeit verschlafen, denn es sind mir nur die Szenen im Gedächtnis, wo schwerbepackte Menschenmassen die Bahnsteige wechselten, treppab, treppauf, unter Umständen an Passierstellen mit Kofferkontrolle von einer Besatzungszone in die andere vorbei, bis man schließlich auf dem richtigen Warteplatz bzw. Bahnsteig stand. War der Zug endlich eingefahren, drängten sich die Menschen, dem Recht des Stärkeren gehorchend, aus bzw. in die Züge. Stets musste auf das eigene Gepäck Acht gegeben werden und mehr noch auf den Angehörigen. Alles begleitet mit Rufen, Geschrei und Weinen.

Die Verwandtschaft gab sicherlich Hinweise zum Übertritt der Grünen Grenze. Es wurde mir durchaus erzählt, das wir vielleicht Oma und Opa bald sehen werden. Jedenfalls wurde mir eingetrichtert, ich solle mich bei der Wanderung bis dahin sehr leise verhalten und nur das tun, was Mutter mir sagt! Mit Erwachsenen spricht nur die Mutter!

Sie ging stets nur bei gutem Wetter, über Mittag und allein mit mir los. Erst durch das Dorf, an der Kirche vorbei, bis zum anderen Ende, wo etwas abgesetzt ein zweistöckiges Haus der Zollverwaltung stand. In einem gehörigen Abstand wechselten wir auf einen Feldweg, der auf der einer Seite durch einen Wald begrenzt war. Ich sah weitab einen Pferdewagen, der gerade durch viele Leute beladen wurde. So wie ich die Umgebung wahrnehmen konnte, sind wir selbstverständlich auch von anderen gesehen worden. Wahrscheinlich legt man sich in diesen Situationen einen Tunnelblick zu: geradeaus und durch!

Das Feld endete, der Weg ging nun vollends durch den Birkenwald. Es ist eine Heidelandschaft. Die Birken stehen dicht, nicht sehr hoch, aber mit vielen Büschen durchsetzt. Man läuft auf wunderschönem weißen Sand. So friedlich, warum dürfen nur Vögel so frei über die Grenze fliegen?

Spuren im Sand zeigten, dass der Weg oft benutzt wurde. Nur vor frischen Fahrradspuren hätten wir Respekt zu haben. Der Zoll hier oder da sollte neuerdings Fahrräder besitzen!

Dann an einem Wegkreuz aus schwarzem Marmor vorbei, legte sich bald die Anspannung. Wir erreichten die ersten Häuser. Um ein paar Ecken, durch eine Gartenpforte und wir standen in der Küche der Großeltern!

Die nächste Zeit verbrachte meine Mutter mit dem Nähen und Ändern von Kleidung. Das hatte sie gelernt und war zu der Zeit eine gefragte Arbeit. So kam aus dem Freundeskreis etwas zusammen, was ein wichtiger Grund der Reise war: etwas Essbares und ein paar Kleinigkeiten (Seife, Kleidung).

Zurück wurde der gleiche Weg genommen. Nur jetzt bepackt und mit dem Kind an der Hand! Aus heutiger Sicht ein risikoreicher Aufwand für ein kurzes Glücksgefühl.